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Die ganz langen StreckenSprinter laufen 60 bis 200 Meter. Der Startschuß knallt und man rennt, so schnell man kann. Nach ein paar Sekunden ist das Rennen vorbei. So einfach und so langweilig ist das. 400 Meter sind eher fies, wem vor der Ziellinie die Luft ausgeht, der verliert, wer auf der Ziellinie noch welche übrig hat auch. Aber auch das ist nach wenigen Sekunden entschieden. Bei den etwas längeren Strecken kommt die richtige Einteilung der Kräfte und Resourcen ins Spiel und natürlich Renntaktik. Spätestens bei den 10.000 Metern haben auch die ganz Schnellen Zeit, gelegentlich zu überlegen. Die Strecke, immer rund ums Stadion, ist ja nicht sehr anspruchsvoll. Interessanter wird's dann bei den Straßenläufen. Die Strecken sind unterschiedlich und wollen entsprechend gelaufen sein, um ein optimales Ergebnis zu erzielen. Steigungen und Gefälle, glatter Asphalt und knubbeliges Kopfsteinpflaster, enge Kurven, Wenden und lange Gerade, dazu Gegen- oder Rückenwind, anfeuernde Zuschauer, Getränkestellen - die Sache wird komplexer. Natürlich kann man auch laufen, ohne an Wettbewerbe zu denken. Spazierenlaufen, so wie man auch spazieren fährt oder geht. Die Weite des Raums genießen, oder Abstand gewinnen, sozusagen. Denn "spazieren" kommt von lateinisch "spatium", der Raum oder Abstand. Spannender ist es jedoch, eine gewisse Herausforderung anzunehmen. Ob es darum geht, Erster zu werden, nicht Letzter zu sein, oder mit Anstand die Strecke zu bewältigen - erhöhter Einsatz verspricht Befriedigung. Der Preis heißt nicht nur Anstrengung bei Training und Wettkampf, sondern auch das Risiko des Mißerfolges. Bei realistischer Zielsetzung ist letzteres jedoch überschaubar und der zur Verfügung stehenden "Erklärungen" Legion. Geht man mit etwas Einsatz (d.h. Training) und vielleicht sogar strukturiert vor, kommt recht bald der Moment, wo die üblichen Strecken, einschließlich des Marathon, ohne wesentliche Probleme zu bewältigen sind. Man kann nun am Tempo arbeiten oder Läufe sammeln, Ziele finden sich leicht: erstmal die 10 Km unter 50, dann unter 40 Minuten und wenn man jung und einsatzfreudig ist unter 35 ... beim Marathon entsprechend (unter 4 Stunden, 3:30, 3 Stunden, ...). Als nicht mehr ganz so junger Freizeitsportler stößt man aber dann doch bald an Grenzen, wo es hart wird. Soll man sich wirklich richtig quälen um die 3 Stunden noch zu "knacken"? Gewinnt man dadurch etwas? Wenn man alt genug ist vielleicht gelegentlich eine Platzierung in der Altersklasse. Auch beim Sammeln hängen die großen Ziele recht hoch, der derzeit wohl führende Marathonsammler überschritt im Frühjahr 2013 die 2000er Marke. Also, wenn ich für den Rest meiner Tage jedes Wochenende rund ums Jahr einen Marathon laufen würde... Das Ergebnis der Rechnung ist ernüchternd: in 38 Jahren hätte ich die 2000 erreicht. Ob mir das noch Spaß machen würde, wenn ich jede auch noch so abstruse Möglichkeit nutzen muß, um die 42,2 Km zu rennen (offiziell, mit Wertung und "Beweisurkunde")? Ich persönlich kann es mir nicht vorstellen. Ja, und dann sind da noch die längeren Strecken. Zwar wird man mit steigendem Alter eher langsamer, bei regelmäßiger Betätigung nimmt dafür die Ausdauer weiter zu. Der Horizont der Möglichkeiten weitet sich. Wer also für die Faszination der langen Strecken empfänglich ist, probiert es am besten einfach mal aus. Wer locker den Marathon schafft, kann auch ein bischen langsamer laufen und 50 oder 60 Kilometer zurücklegen ohne sein normales Training völlig umzustellen und nur noch "auf der Piste" zu sein. Schon bald wird klar: hier ist vieles anders als beim 10 Km Stadtlauf. Werden es dann 100 km und mehr, 12 oder gar 24 Stunden, fühlt man sich wie auf einem anderen Kontinent, reizvoll und manchmal eigenartig. Was gleich auffällt ist eine gewisse Gelassenheit. Wenn klar ist, dass man von morgens früh bis abends spät auf der Strecke sein wird, braucht man beim Start nicht zu drängeln. Das in der Startaufstellung begonnene Gespräch kann ruhig noch weiter geführt werden. Das Tempo ist gemäßigt und der Tag ist lang. Gespräche können sich entfalten und Gedanken formieren. Andere tauchen ab, laufen "in sich rein" und wollen nicht reden. Auch Kopfhörer und Mp3-Plärrer sind im Einsatz, wenngleich zumeist nicht regelkonform. Viele kennen sich, zumal wenn die Strecken richtig lang und fordernd werden. Aber man lernt nicht nur die anderen kennen, sondern auch sich selbst. Ganz neue Eigenschaften kommen zu Tage. Auch hier ist eine gewisse Gelassenheit von Nutzen. Du fühlst dich schon ziemlich strapaziert, obwohl du erst 20 von 80 oder 100 Km gelaufen bist? Keine Panik, das gibt sich wieder. Bei Km 60 fängt ein Muskel an zu schmerzen? Nur nicht gleich verzagen, locker weiterlaufen, auch das geht vorbei. Trotz ausreichendem Training ist plötzlich "die Luft raus" und du fängst an müde zu schlurfen? Dann gibt es zwei Möglichkeiten: eine Gehpause einlegen und sich erholen, oder das Tempo anziehen und wieder in einen besseren Laufstil und Rhytmus kommen. Auch wenn es merkwürdig klingt, manchmal ist die zweite Variante die erholsamere. Man lernt den eigenen Körper kennen und weiß, wie er normalerweise reagiert - und doch gibt es immer wieder Überraschungen. Natürlich nimmt man auf langen Strecken nicht nur Wasser zu sich. Auch das ist ein besonderes und vielfältiges Thema. Der eine nimmt nur das Gel von XY, der andere steht auf Schmalzbrot. Cola und Hefezopf sieht man öfter an Verpflegungsstellen. Aber auch Babynahrung und Flüssiges aus dem Krankenhausbedarf (Sondennahrung) sind im Einsatz. Geschmäcker und Bedürfnisse ändern sich oft radikal im Laufe vieler Kilometer. Ich trinke gern Malzbier, sobald erst einmal 50-60 Km gelaufen sind - im Sitzen rühre ich das klebrige Zeug nicht an (igitt). Es gibt Läufer, die trinken gerne "richtiges" Bier auf der Strecke, andere eher Kaffee. Da werden isotonische Getränke aus Pulvern angerührt und Proteine mit Kolenhydraten kombiniert. Nach 12, 15 oder 20 Stunden kann man den süßen Kram nicht mehr sehen und giert nach Salzigem. Pasta mit Soße gefällig? (am besten schlabberig gekocht, nicht "al dente"). Kartoffelbrei geht mit Soße, Hafergrütze ist gut, wenn nicht allzu pampig. Aber warum nicht Käsebrot oder Pizza. Man hat schon manches gesehen. Aber Vorsicht: vom Inhalt eines Gel-Beutels wird man kurzfristig schneller (sofern echter Bedarf vorhanden war), das gilt von einem großen Teller Pasta sicher nicht. Laufen und Verdauen verträgt sich nur mit niedrigem Tempo, sonst fährt der Zug schnell rückwärts - und manchmal auch die Pasta. Was wann unter welchen äußeren Bedingungen reingeht und drinbleibt und wie schnell man damit laufen kann, ist höchst individuell und muß ausgetestet werden. Was den einen rettet, wirft den anderen aus dem Rennen. Ganz lange Strecken brauchen nicht nur stabile Beine sondern auch robuste Mägen. Wer gar nichts reinkriegt bleibt auf die kürzeren Strecken beschränkt - sorry. Die ganz langen Strecken sind eher mit einer Reise zu vergleichen als mit einem Rennen. Man plant schon lange voraus, trifft Vorbereitungen, informiert sich über die Strecke, stellt sich ein auf die zu erwartenden Bedingungen. Vorfreude und Nervosität vor dem Aufbruch: habe ich an alles gedacht, was mache ich wenn ... ? Manchmal sind besondere Läufe auch mit Reisen verbunden. Wo bekomme ich jetzt auf die Schnelle einen passenden Adapter her, um meine GPS-Uhr an der hiesigen Steckdose aufzuladen? Kann ich es riskieren, vor dem Lauf ein mir unbekanntes exotisches Gericht zu essen oder wird es dann womöglich ein Etappenlauf von Toilette zu Toilette (bzw. Gebüsch)? Aber auch in heimischen Gefielden ruft das Unbekannte. Ich bin noch nie länger als xx Stunden oder yy Kilometer gelaufen. Bin ich noch nie länger als 100 Km gelaufen, beginnt bei 101 die "terra incognita" mit neuen Erfahrungen und vielleicht neuen "Ungeheuern", die gezähmt werden wollen oder niedergerungen. Auf die Frage "na, wie läufts" kann jetzt die Antwort lauten "schon ok, aber frag mich morgen früh um drei nochmal". Es ist eine Binsenweisheit unter Ausdauerjunkies: je länger die Distanz umso wichtiger wird die "mentale Stärke". Was das ist? Vor allem das Wissen oder doch der Glaube daran, dass man die Aufgabe bewältigen kann, auch wenn es unterwegs mal hart wird. Aber auch die Gewissheit, dass man den Lauf wirklich zu Ende bringen will. Schließlich zwingt einen niemand dazu, um Mitternacht bei strömendem Regen oder mittags bei sengender Sonne endlos weiterzulaufen anstatt nach Hause zu gehen und sich aufs Sofa zu legen. Gelassenheit spielt dabei eine wichtige Rolle, meist entstanden aus der Erfahrung, dass Krisen kommen und auch wieder vergehen. Dazu kommen die kleinen "Tricks", besser gesagt, die kleinen taktischen Winkelzüge, die wir unternehmen, um dem Skeptiker unter der eigenen Schädeldecke nicht zu viel Spielraum zu geben. Manchmal reicht es schon, die Bewältigung der ganzen Strecke im Geist erstmal "einzuklammern", und immer nur bis zur nächsten Verpflegungsstelle zu denken. "Ich lauf jetzt erstmal die nächsten 5 Km und entscheide dann, was ich mache." Eine kluge Taktik, die oftmals hilft, kleinere Krisen zu überwinden. Ist die angepeilte Etappe dann geschafft, gehts meist schon wieder besser und man kann sich locker dafür entscheiden, doch zunächst weiterzumachen, bis zum nächsten "VP" (Verpflegungspunkt). Dort lockt ja ein Päuschen für Speise und Trank und vielleicht gibts sogar ne leckere Kleinigkeit für die Psyche (Schokolade?) und ein paar nette Worte, zumindest aber Wasser und schnell verwertbare Kohlenhydrate für den Vortrieb. Als Belohnung lockt ein eindrucksvolles Erlebnis, ein glücklicher Zieleinlauf und das Bewußtsein, auch diese Herausforderung bewältigt zu haben. Man kann die Strecke auch in Viertel, Drittel und Hälften einteilen. Wenn ein Viertel geschafft ist, ist es auch nicht mehr weit bis zum ersten Drittel. Schon bei einem schnell gelaufenen Halbmarathon sind Drittel eine schöne Einheit, nach der man den Lauf einteilen kann. Sieben Km sind überschaubar und drei Abschnitte anschaulich. Oft hilft auch der Vergleich mit den vertrauten Strecken. Diese ist man oft schon gelaufen, man weiß, dass man sie leicht bewältigen kann. So kommt es bei längeren Ultras auch zu dem gerne kolportierten Spruch "jetzt ist es nur noch ein Marathon". Was für den Außenstehenden oder Anfänger wie Hohn oder pure Angeberei klingt ist tatsächlich der Versuch, sich selbst damit zu beruhigen, dass die noch vor uns liegende Strecke ein wohlbekanntes Maß hat, das wir schon oft bewältigt haben und dem nichts Erschreckendes anhaftet. Dass dies nach schon gelaufenen 60, 100 oder 120 Km reine Schönfärberei ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Aber jetzt geht es erst einmal um Zuversicht. Mit dem "Finish" ändert sich dann wieder der Standpunkt und das nicht nur auf der Landkarte. Hatte man sich eben vielleicht noch vorgenommen, jetzt erstmal keine "Ultras" (Ultramarathons = Strecken über 42 Km) mehr zu laufen, sondern sich auf Kurzstrecken zu verlustieren, ertappt man sich schon bald dabei, auf die Frage " und, was kommt als nächstes?" einen Lauf zu nennen, der noch länger ist, bergiger oder sonstwie schwieriger. Ist es wirklich eine Sucht? Irgendwie schon. Aber es ist auch einfach ein fesselndes Hobby mit immer neuen Herausforderungen. Wer gerne reist, sucht schließlich auch immer wieder nach neuen Zielen und Erlebnissen. Jeder Lauf ist ein kleines Abenteuer - und manchmal auch ein großes. zurück zur Eingangsseite | |
Gestaltung
& Inhalt: Dr. Wolfgang Metzger,
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